Unworte des Alltags
Sind Sie auch schon mal darüber gestolpert, welch sonderliche Begrifflichkeiten uns selbstverständlich umgeben?
Ein paar Beispiele…
Hobby /Ehrenamt: Ist beides in etwa gleich gemeint. Wird allgemein nicht als „Arbeit“ anerkannt (siehe auch „arbeits“-los). Sollte jemand seiner Berufung (daher der Begriff “Beruf”) folgen und nicht die Möglichkeit sehen, diese Tätigkeiten zu monetarisieren, wird diese Wesen(!)-tliche (und nicht selten hochkreative, innovative und/oder soziale) Arbeit “Hobby” genannt. Und wenn noch “Ehrenamt” davorsteht, folgt daraus üblicherweise, dass sich daraus keinerlei Anspruch auf Anerkennung in irgendeiner Form ableiten lässt (es sei denn, der Bundespräsident „würdigt ‘Das Ehrenamt’“)
„Frei“-Zeit: Wie lautet denn die „andere“ Zeit als die „freie“ Zeit? „Gefangenen“-Zeit? Wird die „freie“ Zeit gesondert herausgehoben, weil die „andere“ Zeit als „Standard“ zu gelten hat?
Wer “Freizeit” sagt, sagt auch “Gefangenenzeit”.
Für mich gibt es lediglich eine Zeit: Die „Lebenszeit“.
Urlaub: Ähnlich wie „frei“-Zeit.
Bedeutet: Ich erhalte die „Gnade der Erlaubnis“ mich außerhalb des unternehmerischen oder behördlichen Umfelds zu bewegen, mir wird aber zum „Ziel“ auferlegt, dass ich diese Zeit im Sinne der Aufbereitung meiner Arbeitsfähigkeit zu nutzen habe. Also: Allgemein anerkannter Begriff zur individuellen Unfreiheit.
Voraussetzung hierzu ist die Festanstellung als gesellschaftlicher Standard (siehe auch weiter unten: Solo-Selbständige)
Eine Kolumne dazu: https://medium.com/@ThorstenLieder/wo-bitte-liegt-urlaub-ebd744a3a035
Arbeitgeber/Arbeitnehmer: Seit der Industrialisierung eine klassische Verwechselung:
Wer seine/ihre Arbeit gibt ist der „eigentlichen“ Bedeutung nach der Arbeit-Geber bzw. die Arbeit-Geberin, und wer die Arbeit nimmt, ist folglich der Nehmer / die Nehmerin der Arbeit.
Warum diese Begriffe aber genau im umgekehrten Verhältnis gesellschaftlich verwendet (und anerkannt!) werden — übrigens auch gerne von Gewerkschaften aller Couleur, und somit die „Wirklichkeit“ zur Wahrheit um modellieren, liegt wohl auf der Hand. Schließlich ist in der allgemeinen Wahrnehmung “geben” seliger als “nehmen”.
“Arbeitgebende” oder ähnliche Verklausulierungen machen es übrigens nicht besser, ganz im Gegenteil.
Arbeitslos: Ich bin noch nie einem „Arbeits“-losen begegnet. Ausnahmslos jede/r hat zu tun, bringt sich ein, kümmert sich um jemanden oder um irgendetwas, ist sozial involviert oder was auch immer, nur nicht in jedem Fall bezahlt. Besser: Erwerbslos.
Social Distancing: Seit 2020 neu dabei. Ist als „räumliche“ Distanzierung gemeint, bedeutet aber dem Wort nach „soziale“ Distanz und im Umgangssprachlichen „Kein Bezug zu Personen“.
Also: Aufruf zur Vereinzelung und Vereinsamung.
Beschäftige: Klingt sehr nach Therapie. Beschäftigungstherapie in Beschäftigungseinrichtungen im Beschäftigungsverhältnis (siehe auch “Arbeitnehmer”). Dieser Begriff deutet auf die Entfremdung der eigenen Tätigkeit hin: “Deine Arbeit gehört mir, Du bist hier nur beschäftigt.”
Krankgeschrieben: passt sehr gut in das Gesamtkonglomerat “mein-Leben-gehört-nicht-mir”. Bin ich krank? Oder krank geschrieben? Seit Corona ist ja auch möglich, sich “telefonisch krankSCHREIBEN” zu lassen. Was es nicht alles gibt auf Erden.
Oder sollte es heißen “krank telefonieren”? Aber das gehört vermutlich in eine “andere Ecke”.
Foto:Privat: Häufig zu sehen im beruflichen Kontext oder in Business-Netzwerken. Warum eigentlich “Privat”? Ist das ein Warn-Hinweis, dass die abgebildete Person irgendwie entspannt wirkt? Der Hinweis “Foto:Beruflich” ist mir noch nicht aufgefallen. Übrigens ist die abgebildete Person beruflich als auch privat doch die selbe Person. Folglich kann der Hinweis “privat” doch entfallen. “Foto” würde also reichen. Da es aber erkennbar ist, dass es sich offenbar um ein Foto handelt, ist auch dieser Hinweis obsolet. Name der abgebildeten Person reicht also auch.
Frisches Geld: Typisch Neusprech. An diesem Geld ist nichts „frisch“, es wird ja nicht „frisch gedruckt“ sondern besagt: Neue Schulden
(-> siehe auch https://neusprech.org/frisches-geld)
befriedigend (häufig in Verbindung mit “leider nur”): selbstverständlich ist es das genaue Gegenteil eines Unwortes, denn was kann es besseres/schöneres/erfüllenderes geben als “befriedigend”? Sehr zum Beklagen und Bedauern wird uns allerdings bereits in der Schulzeit eingetrichtert, dass es sich hierbei “leider nur” um eine 3 (in Worten: drei) handelt. Vielleicht sogar eine drei-minus. Das wäre dann Minderbefriedigend.
Nach meinem Dafür- und Dagegenhalten müsste die Zensurvergabe in der Schule wie folgt lauten:
1 = befriedigend
2 = sehr gut
3 = gut (“leider nur”)
4 = ausreichend
5 = mangelhaft
und Schluss, “ungenügend” ist lediglich das Schulsystem :-D
„Solo“-Selbständige: Warum „solo“? Selbständige sind in aller Regel unternehmerisch selbständig. Solo-Selbständige werden diejenigen genannt, die nicht der „Staatsreligion Festanstellung“ entsprechen (siehe hierzu auch die oberen Begriffe)
Vielen Dank an Sascha Lobo für seine Inspiration und seinen Beitrag hierzu: https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-hilfen-der-deutsche-staat-verachtet-selbststaendige-kolumne-a-49d0ce81-8b0b-4ee7-ada1-5a6f38382ea9)
Freisetzen (wird gerne im Rahmen von Massenentlassungen verwendet): klingt doch nett, immerhin wird man frei-gesetzt, was kann es Schöneres geben, bedeutet aber: You’re fired
Mehrwertsteuer: Es entsteht der Eindruck, als wenn der Mehrwert (also die Marge) versteuert wird. Wenn dem so wäre, wäre es auch ein Leichtes, den EK zu ermitteln und somit effektiver in Verhandlung zu treten. Es wird allerdings der Umsatz versteuert. Umsatzsteuer ist also korrekt.
Steuergeschenke: warum “Geschenke”? Wenn Steuerzahler etwas zurück(!)erhalten, kann es sich wohl nicht um ein “Geschenk” handeln. Die einzig erkennbare Ausnahme war wohl der Cum-Ex Sandal, das waren in der Tat Steuer-Geschenke.